Bindungsängste können negative Auswirkungen auf das Sexualverhalten haben

Studie untersuchte, ob Achtsamkeit Menschen mit einem unsicheren Bindungsverhalten helfen kann, ungünstige sexuelle Verhaltensweisen abzulegen

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Auf einen Blick

  • Unsere frühkindliche Eltern-Kind-Beziehung beeinflusst, wie wir emotionale Bindungen in späteren Beziehungen aufbauen.
  • Unser Bindungsverhalten ist außerdem eng mit unserem Sexualverhalten verknüpft.
  • Personen mit starker Bindungsangst und einem vermeidenden Bindungsstil neigen zu ungünstigen sexuellen Verhaltensweisen und haben beispielsweise Sex um Selbstbestätigung zu bekommen.
  • Eine neue Studie aus Neuseeland hat gezeigt, dass Achtsamkeit bei Menschen mit Bindungsängsten helfen kann, ungünstige sexuelle Verhaltensweisen zu erkennen und abzulegen.
  • Allerdings ist Achtsamkeit keine Allzweckwaffe und kann bei einem vermeidenden Bindungsverhalten sogar ungünstige sexuelle Verhaltensweisen verstärken.
  • Sexologin Sarah Melancon erklärt, wie Personen mit unsicheren Bindungsverhalten die Ergebnisse der Studie für sich nutzen können.

Manche Menschen haben Sex, um Intimität zu erfahren oder auch einfach nur um des Vergnügens willen. Andere Menschen schlafen wiederum aus ganz anderen Gründen mit einer anderen Person, beispielsweise um damit etwas zu kompensieren.

Wenn wir Sex haben, um Selbstbestätigung zu bekommen oder um Probleme in der Beziehung zu vermeiden, beeinträchtigt das unser Wohlbefinden. Und zwar sowohl auf persönlicher als auch auf beziehungsbezogener Ebene, wie Studienergebnisse der University of Missouri–Columbia zeigen.

Menschen, die Geschlechtsverkehr haben, um ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen oder um sich ihrem Partner nahezufühlen, berichten wiederum über eine höhere sexuelle Zufriedenheit und Beziehungszufriedenheit.

Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, aus welchen Gründen du Sex hast?

Die Bindungstheorie erklärt, welche Motive wir für Sex entwickeln

Unsere Motive für Sex sind ein interessantes Forschungsfeld, das auf unterschiedliche Weisen ergründet werden kann. Die Bindungstheorie, die ein wichtiges Forschungsgebiet der Entwicklungspsychologie darstellt und sich mit dem Bindungsverhalten des Menschen beschäftigt, bietet einen nützlichen Rahmen hierfür.

Die Bindungstheorie kurz erklärt:

Die Bindungstheorie geht auf den englischen Kinderpsychiater John Bowlby (1907-1990) zurück. Sie beschäftigt sich mit den emotionalen Bindungen zwischen Menschen.

Bowlby stellte fest, dass die Beziehung, die wir im Säuglingsalter zu unseren Eltern aufbauen, einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung unserer emotionalen Kompetenz, unserer Verhaltensweisen und unsere Persönlichkeit hat. Damit beeinflusst unsere Eltern-Kind-Beziehung auch, wie wir im Erwachsenenalter Beziehungen mit anderen Menschen eingehen und unsere Beziehungen gestalten.

Unsicheres vs. sicheres Bindungsverhalten

Die Bindungstheorie unterscheidet zwischen einem unsicheren und sicheren Bindungsverhalten.

Der unsichere Bindungstyp:

So neigen Kinder, die keine sichere und stabile Beziehung zu ihren Bezugspersonen aufbauen können (bspw. wenn sie nicht ausreichend betreut und unterstützt werden und sich nicht auf ihre Eltern verlassen können), im Erwachsenenalter zu einem unsicheren Bindungsverhalten in ihren Beziehungen.

Ein unsicherer Bindungstyp kann sich durch ein ängstliches oder vermeidendes Verhalten äußern. Solchen Personen fällt es oft schwer, ein emotionales Band zu einer nahestehenden Person aufzubauen.

A) Ängstliches Bindungsverhalten: Stark ausgeprägte Bindungsängste sind gekennzeichnet durch ein geringes Selbstwertgefühl, Angst vor Zurückweisung und Verlustängste einer nahestehenden Person. Es wird Nähe und Intimität gesucht, um Nähe, Liebe und Unterstützung zu erfahren.

Menschen mit einem ängstlichen Bindungsverhalten grübeln meist viel und machen sich Sorgen um ihre Beziehung. Sie glauben oft, nicht genug zu sein und denken viel über ihre Mängel und Schwächen nach. Der ängstliche Bindungstyp sucht immer wieder nach Bestätigung und der Aufmerksamkeit des Partners bzw. der Partnerin.

B) Vermeidendes Bindungsverhalten: Menschen mit einem vermeidenden Bindungsstil haben mehrheitlich Schwierigkeiten damit, anderen zu vertrauen. Oft fällt es ihnen schwer, Nähe zuzulassen, da sie sich nicht abhängig machen wollen.

Da sie ihre Gefühle nicht offen zeigen können, neigen sie dazu, sie zu unterdrücken. Tief im Inneren haben sie Angst vor Zurückweisung und sehnen sich eigentlich nach Nähe.

Der sichere Bindungstyp:

Ein sicheres Bindungsverhalten hingegen kann entstehen, wenn Kinder von ihren Eltern oder Bezugspersonen liebevoll betreut und unterstützt werden und sich auf sie verlassen können. Sichere Bindungen sind für die psychologische Entwicklung von Kindern von großer Bedeutung, da sie das Vertrauen in andere Menschen fördern und das Selbstwertgefühl stärken.

Menschen mit sicheren Bindungsmustern haben in der Regel einen guten Zugang zu ihren Gefühlen. Sie sind in der Lage, stabile Partnerschaften mit emotionaler Tiefe aufzubauen.

Unser Sexualverhalten ist eng mit unserem Bindungsverhalten verknüpft

Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass unser Sexualverhalten eng mit unserem Bindungsverhalten verknüpft ist.

Sex kann Nähe, Schutz, Anerkennung und Intimität schaffen und dadurch Bindungsbedürfnisse befriedigen, wie eine Studie aus dem Jahr 2019 nachweisen konnte.

Wissenschaftler:innen der University of California konnten hingegen zeigen, dass Personen mit Bindungsängsten und vermeidenden Bindungsmustern aus eher ungünstigen Motiven Sex haben, beispielsweise um damit etwas zu kompensieren.

Lediglich Personen mit sicheren Bindungsmustern haben Sex zum bloßen Zweck des Genusses.

Sexuelle Motive & Verhaltensweisen bei Bindungsangst

Die Forschenden erklären, dass das geringe Selbstwertgefühl und die Angst vor Zurückweisung, die für Menschen mit starker Bindungsangst typisch sind, auch im Schlafzimmer präsent sind. Dies veranlasst sie dazu, Sex zu haben, um Zuwendung und Nähe zum Partner zu erfahren oder um Selbstbestätigung zu erhalten.

Bindungsangst wird zudem mit einem höheren Interesse an Sex in Verbindung gebracht. Insbesondere dann, wenn Unsicherheit verspürt wird. Die Beweggründe für Sex spiegeln oft das Bedürfnis wider, die Gunst des Partners zu gewinnen oder ihm nahe zu sein.

Außerdem haben sie Sex, um sich selbstbewusst und begehrenswert zu fühlen. Sex kann ihnen zudem helfen, besser mit unangenehmen Gefühlen umgehen zu können, was typisch für eine negative Selbstwahrnehmung ist.

Sexuelle Motive bei einem vermeidenden Bindungsstil

Die kalifornische Studie zeigt weiterhin, dass Personen mit einem vermeidenden Bindungsverhalten Sex explizit als Mittel zum Aufbau von Intimität mit ihrem Partner vermeiden.

Sie gehen beim Sex eher auf Distanz, um ihr Bedürfnis nach Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten und ziehen aus sexuellen Aktivitäten Selbstbestätigung. Weiterhin nutzen sie Sex, um Beziehungskonflikte zu vermeiden.

Kann Achtsamkeit ungünstige sexuelle Verhaltensmuster reduzieren?

Bislang war nur wenig darüber bekannt, welche Faktoren ein ungünstiges Sexualverhalten mindern können.

Erst vor Kurzem haben sich Psycholog:innen der University of Auckland in Neuseeland diesem Thema angenommen und eine Studie durchgeführt. Das Forscherteam stellte die Hypothese auf, dass ungünstige sexuelle Verhaltensmuster durch Achtsamkeit reduziert werden können.

Was ist Achtsamkeit?

Achtsamkeit ist ein geistiger Zustand, der sich im Bewusstmachen des gegenwärtigen Moments äußert, der nicht gewertet wird. Gedanken und Gefühle, die zum Ausdruck kommen, werden akzeptiert.

Achtsamkeit hat viele positive Einflüsse auf unser Leben

Die Forschung hat gezeigt, dass Achtsamkeit einen positiven Einfluss auf unsere psychische und physische Gesundheit hat. Studienergebnisse der Brigham Young University deuten darauf hin, dass Achtsamkeit auch unsere Beziehungen zu anderen Menschen und unsere Sexualität positiv beeinflusst.

Weitere Studien konnten nachweisen, dass Achtsamkeit mit einer stärkeren Bindungssicherheit einhergeht. So wird Achtsamkeit auch mit einem stärkeren und stabileren Selbstwertgefühl, einer besseren Emotionsregulation, mehr Beziehungszufriedenheit und mehr Resistenz gegen Stress in Verbindung gebracht.

Zur Studiendurchführung

Die Studie der Psycholog:innen der University of Auckland wurde mit 194 Personen durchgeführt. Die Teilnehmenden waren zwischen 18 und 63 Jahre alt und befanden sich zum Zeitpunkt der Studiendurchführung in einer im Durchschnitt 6 Jahre langen Partnerschaft.

Mithilfe eines Fragebogens wurden die Teilnehmenden zu ihrem Bindungsstil, ihren sexuellen Motiven und achtsamen Verhalten befragt.

Die Studienergebnisse

Die Studienergebnisse bestätigen die Vermutungen der Psycholog:innen:

  • Bei Personen mit ängstlichem Bindungsverhalten war ein höheres Maß an Achtsamkeit mit weniger Sexualkontakten verbunden, die zur Bewältigung von Stressfaktoren oder zur Selbstbestätigung dienten.
  • Insbesondere wurden sexuelle Motive, die zur Selbstbestätigung und Emotionsregulation dienen, durch achtsames Handeln aufgehoben.
  • Bei Personen mit vermeidenden Bindungen hatte Achtsamkeit jedoch den gegenteiligen Effekt: Ein höheres Maß an Achtsamkeit wurde mit mehr Bewältigungs- oder Selbstbestätigungsmotiven für Sex in Verbindung gebracht.

Die Studienautor:innen haben hierfür zwei Erklärungen.

1. Erhöhte Bewusstheit kann als belastend empfunden werden

Während Personen, die einen ängstlichen Bindungsstil haben, von erhöhter Achtsamkeit profitieren, weil sie sie ermutigt, Erlebnisse besser zu bewältigen, könnten Personen, die einen eher vermeidenden Bindungsstil haben, die erhöhte Bewusstheit von zuvor vermiedenen emotionalen Erfahrungen als belastend empfinden.

Der Stress, der mit der Bewusstmachung dieser Erfahrungen verbunden ist, kann den Vorteilen, die Achtsamkeit sonst bietet, entgegenwirken. Dabei kann es sogar dazu kommen, dass sich vermeidende Bindungsmuster stärker in Gedanken, Gefühlen, Motiven und Verhalten äußern.

2. Es fehlen die nötigen Bewältigungsstrategien

Die Studienergebnisse könnten sich den Psycholog:innen zufolge auch dadurch erklären lassen, dass Achtsamkeit die Partnerschaft betreffenden Sorgen nicht auflöst (z. B. Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit, Sorgen um die eigene Selbstständigkeit).

Achtsamkeit kann zwar dazu führen, dass sich vermeidend gebundene Personen ihrer beziehungsbezogenen Sorgen bewusster werden – Wege, diese Sorgen zu bewältigen, werden durch Achtsamkeit allerdings nicht aufgezeigt.

Dies kann wiederum die Art und Weise verstärken, in der sich Ängste in sexuellen Motiven und Verhaltensweisen widerspiegeln.

So kannst du die Studienergebnisse für dich nutzen

Fraulila hat mit einer Expertin darüber gesprochen, wie Personen mit einem unsicheren Bindungsverhalten die Studienergebnisse für sich nutzen können. Die Sexologin und Beziehungsexpertin Sarah Melancon aus den USA empfiehlt Menschen mit einem ängstlichen Bindungstyp regelmäßig Achtsamkeitsübungen zu machen.

„Bei einer Achtsamkeitsmeditation geht es beispielsweise darum, sich auf den Atem zu konzentrieren, das eigene Erleben zu beobachten, Gedanken kommen und gehen zu lassen. Gefühle und Empfindungen werden wahrgenommen, ohne sie zu bewerten“, erläutert Melancon.

Auch andere Körper-Geist-Praktiken, wie Yoga oder Tai-Chi, können laut der Sexologin hilfreich sein.

„Für Menschen, die zu einem vermeidenden Bindungsverhalten neigen, können achtsamkeitsbasierte Ansätze schädlich sein, wie die neuseeländische Studie zeigt. Insbesondere, wenn man sich nicht mit dem Kernaspekt der Bindungsprobleme beschäftigt, dem fehlenden Vertrauen in andere“, führt die Expertin weiter aus.

„Wenn allerdings der Partner oder die Partnerin ein höheres Maß an Achtsamkeit aufweist, kann das betroffenen Personen helfen, Vertrauen zu gewinnen.“

Wie geht man mit einem Partner um, der ein vermeidendes oder ängstliches Bindungsverhalten ausweist?

1. Bei Partner:innen mit einem vermeidenden Bindungstyp:

Hat man eine:n Parter:in, der oder die vermeidende Bindungsmuster aufweist, ist es laut Melancon wichtig, dass man zuversichtlich bleibt.

„Der Partner oder die Partnerin beabsichtigt es nicht, verletzend zu sein, sondern gibt sein Bestes. Es ist wichtig, ihm oder ihr Freiraum zu geben und das Bedürfnis nach Freiraum und Zeit für sich zu respektieren – sei es, wenn er oder sie von der Arbeit nach Hause kommt oder nach einem Konflikt“, erklärt die Beziehungsexpertin.

Zu viel Aufmerksamkeit oder Druck könne Melancon nach dazu führen, dass sich Personen mit einem vermeidenden Bindungsverhalten abkapseln.

2. Bei Partner:innen mit einem ängstlichen Bindungstyp:

Bei ängstlichen Partner:innen sei regelmäßige Kommunikation wichtig: Nach Möglichkeit solle man den ganzen Tag über in Kontakt bleiben oder den/ die Partner:in wissen lassen, wenn man eine Zeit lang nicht erreichbar ist. Wenn man die Stadt verlässt, kann es helfen, die Angst des Partners verringern, indem man sich regelmäßig meldet.

Melancon betont außerdem, dass es wichtig ist, sich bei auftretenden Unsicherheiten des Partners oder der Partnerin vor Augen zu halten, dass diese Gefühle auf vergangenen emotionalen Verletzungen oder unerfüllten Bedürfnissen beruhen (“Niemand kümmert sich wirklich”, “Ich verdiene keine Liebe” usw.). Hier könne es helfen, mitfühlend zu kommunizieren und dem Partner das Gefühl zu geben, gehört und verstanden zu werden.

Fazit: Achtsamkeit ist keine Einheitslösung für alle Probleme

Abschließend deutet Sarah Melancon darauf hin, dass Achtsamkeit in den letzten zehn Jahren drastisch an Popularität gewonnen hat. „Angesichts der Schlagzeilen in den Medien, die die Vorteile für alles Mögliche anpreisen – von Herz-Kreislauf-Problemen über Zufriedenheit am Arbeitsplatz bis hin zur Verbesserung von Beziehungen – kann man leicht den Eindruck gewinnen, Achtsamkeit sei DIE ANTWORT“, so Melancon.

Obwohl Achtsamkeit für manche Menschen von großem Nutzen sein kann, ist sie der Sexologin nach keine Einheitslösung für alle.

Achtsamkeitspraktiken sind mit Vorsicht zu genießen

Sie betont, dass sich eine kleine, aber wachsende Anzahl an Forscher:innen mit den negativen Auswirkungen von Achtsamkeit befasst. Achtsamkeit könne nachweislich bei einigen Menschen zu Traumareaktionen, dissoziativen Störungen (Gefühle und Erfahrungen, die der oder die Betroffene nicht in das Selbstbild integrieren oder emotional verarbeiten kann, werden abgespalten) und Panik führen.

Wenn du also neue Achtsamkeitspraktiken ausprobieren möchtest, um herauszufinden, ob sie dir helfen, solltest du bedenken, dass diese zwar bei deinen Freunden oder deinem Partner gut funktionieren können, dies allerdings nicht unbedingt auch bei dir der Fall sein muss.

Expertin in diesem Artikel

  • Sarah Melancon, Ph.D., Soziologin, Beziehungsexpertin und zertifizierte Sexologin.

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