Lange Zeit handelte es sich um ein Tabuthema, doch heute sprechen immer mehr Frauen offen über ihr geringes sexuelles Verlangen.
Die weibliche sexuelle Unlust ist tatsächlich ein weit verbreitetes Phänomen, wie eine australische Studie zeigt: rund 55 % der Studienteilnehmerinnen berichteten von einem geringen sexuellen Interesse.
Für die meisten der Frauen stellt dies kein Problem dar – 12 % bis 16 % der Frauen gaben allerdings an, aufgrund ihrer sexuellen Unlust unter Stress zu leiden.
Hat sexuelle Unlust etwas mit der Partnerschaft zu tun?
Interessanterweise zeigt eine Studie aus den USA, dass sexueller Stress bei Frauen mit der Tatsache einhergeht, dass sie sich in einer Partnerschaft befinden. Damit stellt sich die Frage, ob ein geringes sexuelles Verlangen in erster Linie ein Beziehungs- und kein individuelles Problem ist.
Könnte die Beziehung ein wesentlicher Bestandteil des weiblichen Lustempfindens sein?
Noch wurde diesbezüglich wenig geforscht. Ein Großteil der zu dieser Thematik durchgeführten Forschungsprojekte beschäftigte sich mit biologischen, emotionalen und mentalen Gründen, die bei Frauen zu geringer sexueller Lust führen können. Welche Rolle Beziehungskontexte spielen, wurde bislang kaum berücksichtigt.
Hat die Beziehungszufriedenheit einen Einfluss auf die weibliche sexuelle Lust?
Es gibt einige Belege dafür, dass die Beziehungszufriedenheit mit der weiblichen sexuellen Lust zusammenhängt.
Eine Studie aus dem Jahr 2008 zeigt sogar, dass die Beziehungszufriedenheit noch stärker als das Alter, die psychische Gesundheit oder die sexuelle Vorgeschichte im Zusammenhang mit der weiblichen sexuellen Lust steht.
Andere Forschungsergebnisse zeigen eine Wechselbeziehung zwischen der Beziehungszufriedenheit und der sexuellen Lust auf:
Andere Forschungsergebnisse zeigen allerdings, dass es auch Frauen gibt, die sexuell unzufrieden sind, aber mit ihrer Beziehung zufrieden sind.
Andersherum wäre es nachvollziehbarer: Hat man ein höheres sexuelles Verlangen, hat man auch mehr Sex. Das führt zu angenehmeren sexuellen Erfahrungen, was wiederum die Nähe und die allgemeine Zufriedenheit in der Beziehung fördern kann.
Ob die Beziehungszufriedenheit das weibliche sexuelle Verlangen beeinflussen kann, wurde bislang jedoch nur unzureichend erforscht.
Gerechtigkeitserleben beeinflusst das Beziehungsglück
Studienergebnisse von Soziolog:innen, die einen interessanten Aspekt in Sachen Beziehungszufriedenheit und weiblicher Lust darstellen, zeigen: Gerechtigkeit in der Beziehung ist für das Wohlbefinden von Frauen in ihren Beziehungen von zentraler Bedeutung.
Wahrgenommene Ungerechtigkeit in Beziehungen wird mit geringerer sexueller Zufriedenheit und Häufigkeit in Verbindung gebracht. Partner:innen, die sich gleichwertig gegenseitig unterstützen, sind hingegen sexuell zufriedener.
So berichten beispielsweise Mütter, die sich durch die Aufgaben der Kindererziehung und Haushaltsführung überlastet und zu wenig von ihrem Partner unterstützt fühlen, eher über eine geringere sexuelle Zufriedenheit.
Hat das Gerechtigkeitserleben einen Einfluss auf die weibliche sexuelle Lust?
Der Zusammenhang zwischen Beziehungsgerechtigkeit und sexueller Zufriedenheit lässt darauf schließen, dass das Gerechtigkeitserleben einen Einfluss auf die weibliche sexuelle Lust hat.
Australische Psycholog:innen der Swinburne University of Technology nahmen sich dieser Thematik an und führten eine neue Studie durch. Sie untersuchten, welchen Einfluss die Beziehungszufriedenheit und das Gerechtigkeitsempfinden in einer Partnerschaft auf die weibliche sexuelle Lust haben.
299 Frauen wurden online befragt
Die Psycholog:innen führten eine anonyme Online-Umfrage durch, an der 299 australische Frauen im Alter von 18 bis 39 Jahren teilnahmen.
50 % der Teilnehmerinnen befand sich zum Zeitpunkt der Studiendurchführung in einer Partnerschaft oder Ehe. 68 % waren heterosexuell, 18 % bisexuell und 4 % lesbisch. Die übrigen Teilnehmerinnen hatten andere sexuelle Identitäten (demisexuell, pansexuell, fluid-sexuell und queer).
Die Ergebnisse der Studie bestätigen, dass Frauen in gleichberechtigten Beziehungen zufriedener sind. Gleichzeitig haben sie ein stärkeres Verlangen nach ihrem Partner oder ihrer Partnerin als Frauen, die Ungleichheit in ihren Beziehungen erleben.
Ungleiche Aufgabenverteilung reduziert die sexuelle Lust
Die Studienautor:innen erläutern: Sind Aufgaben im gemeinsamen Haushalt ungleich aufgeteilt, kann das belasten, müde machen und Stress erzeugen. Müdigkeit (sowohl körperliche als auch mentale) sei einer der Hauptgründe für sexuelle Unlust.
Die mit ungleichen Beziehungsverhältnissen verbundenen Probleme können durch die Anwesenheit von Kindern noch verschärft werden. Die Analysen der australischen Studie zeigen, dass die Studienteilnehmerinnen mit Kindern unzufriedener mit ihrer Beziehung sind und weniger Lust auf Sex mit ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin haben als die Befragten ohne Kinder.
Studienergebnisse aus Deutschland des Jahres 2020 zeigen, dass die COVID 19-Pandemie zu einer Vergrößerung des Ungleichgewichts zwischen Kinderbetreuung und Haushaltsarbeit geführt hat.
Diese rückläufige Entwicklung der Rolle der Frau könnte laut der Psycholog:innen in Zukunft zu einer Zunahme der Unzufriedenheit in Beziehungen und damit zu einem niedrigen sexuellen Verlangen führen.
Weniger Lust auf Sex bei Monotonie
Die neue Studie zeigt außerdem, dass insbesondere in längeren Beziehungen das sexuelle Verlangen der Frauen geringer ist. Laut der Psycholog:innen kann Monotonie in der Partnerschaft dafür verantwortlich sein.
Doch nicht nur aufkommende Langeweile in langfristigen Beziehungen trägt zu einem niedrigen sexuellen Verlangen bei. Die Studienautor:innen verweisen darauf, dass sich ungleiche Beziehungsverhältnisse sowohl in heterosexuellen als auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen mit der Zeit verstärken können.
Sie gehen daher davon aus, dass das Gerechtigkeitsempfinden ein entscheidendes Element dafür ist, wie die Beziehungsdauer mit dem sexuellen Verlangen in Verbindung steht.
Beziehungsunzufriedenheit reduziert nicht die Lust auf Solo-Sex
Die Forschenden erwarteten, dass Frauen in unbefriedigenden Beziehungen generell weniger Lust verspüren, sexuell aktiv zu sein und daher auch weniger Lust auf Selbstbefriedigung haben.
Überraschenderweise zeigen die Ergebnisse etwas anderes: Beziehungsunzufriedenheit hat genauso wenig wie ein Ungleichgewicht zwischen den Partner:innen Einfluss darauf, ob Frauen Lust auf Solo-Sex haben oder nicht.
Damit wird deutlich, dass das sexuelle Verlangen nach dem Partner oder der Partnerin vielschichtig und komplex ist und in Verbindung zu den Beziehungskontexten steht.
Die Studienautor:innen halten es für möglich, dass Selbstbefriedigung ein Ventil für Frauen ist, das es ihnen ermöglicht, sich auf ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse zu konzentrieren, ohne sich um die eines Partners bzw. einer Partnerin kümmern zu müssen.
Heterosexuelle Frauen haben weniger Lust auf Solo-Sex
Interessanterweise hatten die heterosexuellen Studienteilnehmerinnen weniger Lust auf Solo-Sex als Frauen mit anderen sexuellen Orientierungen.
Dies könnte etwas mit den geschlechtsspezifischen Erwartungen zu tun haben, die an Frauen in heterosexuellen Beziehungen gestellt werden. In der heutigen Kultur werden Frauen, die sich auf ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse ohne Bezug zu ihrem Partner konzentrieren, oft als selbstbezogen und hypersexuell stigmatisiert.
Künftige Untersuchungen könnten die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Lust auf Selbstbefriedigung bei heterosexuellen Frauen durch solche gesellschaftlichen Sitten gedämpft wird.
Das Gerechtigkeitsempfinden hat keinen direkten Einfluss auf die sexuelle Lust
Weiterhin wurde untersucht, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen der Beziehungsgerechtigkeit und der weiblichen sexuellen Lust gibt. Die Psycholog:innen konnten einen solchen Zusammenhang allerdings nicht nachweisen.
Obwohl eine gerechte und respektvolle Beziehung die Voraussetzung für eine erfüllte Sexualität sein kann, ist die sexuelle Lust der Frauen nicht direkt von der Beziehungsgerechtigkeit abhängig.
Anders als ein Forschungsprojekt aus dem Jahr 2004, das einen direkten Zusammenhang zwischen dem Gerechtigkeitsempfinden und dem sexuellen Verlangen nachwies, wurde die neue Studie mit einer höheren Teilnehmerinnenzahl durchgeführt. Zudem wurde der Aspekt der Beziehungszufriedenheit mit in die Untersuchungen miteinbezogen.
Beziehungszufriedenheit hat einen wichtigen Einfluss auf die sexuelle Lust
Die Messungen machen zwar ein Zusammenhang zwischen dem Gerechtigkeitsempfinden und sexueller Lust deutlich – allerdings ist dieser abhängig von einem weiteren Faktor, der Beziehungszufriedenheit.
Während US-amerikanische Forscher die Theorie aufstellten, dass Frauen ihr sexuelles Verlangen bewusst unterdrücken, um die Macht in ihrer Beziehung zurückzuerlangen, zeigen die Ergebnisse der neuen Studie etwas anderes: Ungleiche Beziehungsverhältnisse schaffen Beziehungsunzufriedenheit und haben deshalb einen negativen Einfluss auf das sexuelle Verlangen.
Frauen scheinen ihre sexuelle Lust also nicht bewusst zurückzuhalten, um ihren Partner oder ihre Partnerin für die Ungerechtigkeiten zu bestrafen. Sie verspüren schlichtweg weniger körperliches Verlangen nach ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin, weil sie mehr in der Partnerschaft geben als sie zurückerhalten.
Eine Expertin äußert sich zu den Studienergebnissen
Tina Fey, Beziehungsexpertin und Gründerin von Love Connection, überrascht es absolut nicht, dass wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass Gleichberechtigung zwischen Partner:innen die Beziehungszufriedenheit fördert.
„Die Studienergebnisse bestätigen nur, was ich als Frau, die Wert auf Gleichberechtigung und die Stärkung der Rolle der Frau legt, schon immer geglaubt habe: Wenn wir uns in unseren Beziehungen wertgeschätzt, gehört und respektiert fühlen, steigt unser sexuelles Verlangen und unsere allgemeine Zufriedenheit!“, bekundet Fey.
„Das weibliche sexuelle Verlangen ist ein komplexes Phänomen. Die Ergebnisse erinnern uns daran, dass das sexuelle Verlangen von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Unter anderem vom Grad der Gleichberechtigung in der Beziehung. Wenn wir in einer Beziehung leben, in der Gleichberechtigung im Vordergrund steht, in der wir als Gleichberechtigte behandelt und unsere Meinungen und Gefühle berücksichtigt werden, dann macht das einen großen Unterschied“, meint die Beziehungsexpertin.
Woran erkennt man, ob es Probleme mit der Gleichberechtigung in einer Beziehung gibt?
Ob es Probleme in deiner Partnerschaft mit der Beziehungsgerechtigkeit gibt, kannst du laut der Beziehungsexpertin Tina Fey (unter anderem) anhand folgender Schlüsselindikatoren erkennen:
- Eine Person übernimmt mehr Verantwortung im Haushalt oder in der Beziehung.
- Es besteht das ständige Gefühl, in Gesprächen nicht gehört zu werden.
- Eine Person hat mehr Macht bei der Entscheidungsfindung.
- Eine der beiden Personen übernimmt ständig eine größere emotionale Belastung bei Konflikten.
Wenn du ungelöste Konflikte mit deinem Partner oder deiner Partnerin hast, solltet ihr sofort damit beginnen, daran zu arbeiten. Andernfalls können keine weibliche sexuelle Lust und eine gesunde und erfüllende Beziehung entstehen.
Wie kann Gleichberechtigung in einer Beziehung erreicht werden, um die Beziehungszufriedenheit zu verbessern?
Hast du das Gefühl, dass es in deiner Beziehung nicht ganz gleichberechtigt zugeht und fragst dich, was du dagegen tun kannst?
Tina Fey versichert, dass Gleichberechtigung zwischen Partner:innen nicht außer Reichweite liegt. Um die Zufriedenheit und das Glück in einer Beziehung zu steigern, sei es wichtig, Gleichberechtigung zu einer Priorität zu machen.
„Durch praktische Schritte wie klare Kommunikation, das Setzen von Grenzen, die gerechte Aufteilung von Verantwortlichkeiten und aktives Zuhören kann man eine starke, erfüllende und sexuell befriedigende Partnerschaft aufbauen“, sagt Fey.
Die Beziehungsexpertin ist der Meinung, dass man sich auf keinen Fall mit weniger zufriedengeben sollte als mit einer ausgewogenen und gleichberechtigten Beziehung. Leite deswegen am besten noch heute die ersten notwendigen Schritte ein, um eine bessere und befriedigendere Zukunft mit deinem Partner oder deiner Partnerin zu schaffen.
Positive Veränderungen für die ganze Gesellschaft
Abschließend hält Tina Fey fest: „Für mich ist die neue Studie ein weiterer Hinweis darauf, dass die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter in Beziehungen der Schlüssel zum Aufbau gesunder und erfüllender Beziehungen ist.“
„Wenn Paare die Gleichstellung in ihren Beziehungen in den Vordergrund stellen, können sie nicht nur ihre eigene Partnerschaft verbessern, sondern auch einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes ausüben.“
Fazit: Wertvolle Einblicke in die vielschichtige Natur der weiblichen Lust
Das weibliche sexuelle Verlangen ist definitiv ein komplexes Unterfangen und nicht auf Anhieb zu durchschauen. Die Ergebnisse der neuen Studie bieten definitiv wertvolle Einblicke in die vielschichtige Natur der weiblichen Lust.
Gerechte Beziehungsverhältnisse können einen wichtigen Einfluss auf die Beziehungszufriedenheit und damit auch auf die weibliche sexuelle Lust haben. Für die meisten Frauen dürften die Studienergebnisse keine große Überraschung sein – dafür aber vielleicht für viele Männer.
Gleichberechtigung in einer Beziehung bedeutet nicht unbedingt, dass beide Partner:innen perfekt sein oder immer die gleichen Entscheidungen treffen müssen. Vielmehr geht es darum, ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen und Erwartungen beider Personen zu finden, um gegenseitigen Respekt und Zufriedenheit zu schaffen.
Wenn Paare die Bedeutung von Beziehungsgerechtigkeit verstehen und sich auf eine effektive Kommunikation einlassen, kann eine befriedigendere und erfüllendere Dynamik entstehen.